bewusster leben (01. Januar 1995)

Ich langweile mich so

Ach, diese armen Kinder

Beobachtet von E.K. Timmermeister
Man sagt: „… auch wenn die Geschichte nicht wahr ist, so ist sie doch gut erfunden.“ – Manche Geschichten muss man nicht erfinden, sie passieren einem, auf höchst realistische Weise. Ich blättere im Fotobuch von Kurt Haberstich über Kinder in der „Dritten Welt“. Mein Herz zog sich zusammen. Die Kinder wirkten auf den ersten Blick ärmlich und vernachlässigt. Die Kleider waren vom ständigen Gebrauch zerrissen, - keine serienmässig in Fabrikation hergestellten Fetzen, die „lässig“ oder arm wirken sollten, obwohl man es nicht ist, - Schuhe und Strümpfe waren durchlöchert, und kein Spielzeug, wie es die Kinder der „Ersten Welt“ besitzen, war zu sehen. Lustige, traurige, verträumte Kinder, einigen blickte gar Schalk aus den Augen, wieder anderen standen sie voller Tränen.

Ein kleiner Bub fiel mir besonders auf. Er sass auf einem Felsen, sein Hund neben ihm schien ihn zum Spiel, zum Wettlauf aufzufordern. Verschmitzt schaut der Bub unter dem viel zu grossen Hut hervor. Der Mund ist halb geöffnet, zum Pfiff, zum Schlachtruf, zu einem Jauchzer? Alles ist möglich. Die Welt gehört ihm. Sind für ihn nicht Fels und Geröll bereits Allee zu seinem Schloss? Der Hund an seiner Seite ein Herold, der ihn, den König ankündigt? Der Hut, die Krone, die er sich selbst aufsetzt? Alles ist möglich, dem der glaubt! Hat der Bub hoch oben in den Anden je diese Worte vernommen? Wer lehrte sie ihn, hier in dieser abgelegenen Gegend?

Doch er kennt sie, die Botschaft. Sie liegt in seinem Innern, er vernimmt sie im Laut des Tages und dem traumbehafteten in der Nacht. Und lebt danach. Arm an materiellem zu sein, ist nicht gleichbedeutend mit arm sein im Geiste.

Ich merke, wie ich fast mit Neid auf die Kinder in diesem Buch schaue, Augen sehe, in denen eine Welt von noch verborgenem leben liegt. In deren Händen ein Ast zum stolzen Ross wird. Kieselsteine zu Edelsteinen.

Ich schrecke auf aus meinen Gedanken. Es läutet heftig und nachhaltig an meiner Tür. So spät noch? Es ist Ende Januar, neun Uhr abends und draussen ist es stockdunkel. Doch niemand ist zu sehen. Diesmal eile ich rasch zur Tür und erwische drei Buben zwischen sieben und acht Jahren, die sich wohl einen verfrühten Fasnachtsscherz erlauben. Ich packe mir die Drei, die nicht einmal zu fliehen versuchen, und wir kommen ins Gespräch: Wie heisst ihr, wo wohnt ihr, wo sind die Eltern? Was macht ihr um diese Zeit noch draussen? – Nun, die Eltern arbeiten noch, sind fortgefahren, eine der Mütter muss abends putzen gehen. Bereitwillig geben die Kinder Antwort. Ja, das Essen steht bereit, Hunger haben sie nicht, aber die Orange, die ich ihnen in die Hand drücke nehmen sie an. Zum Schluss frage ich aber doch noch: Wieso habt ihr an der Tür geläutet, es gibt doch lustigere Streiche? – Die Kinder sehen mich stumm an, wissen wohl keine Antwort. Endlich sagt der Grössere, der Wortführer der kleinen Bande: Was soll ich denn sonst machen? Ich langweile mich so!

Die Kinder sind heimgegangen, in die leeren Wohnungen, wo niemand sie erwartet. Doch ich sitze noch lange da und das Herz wird mir schwerer, je länger ich über diesen Satz „Ich langweile mich so!“ nachdenke.

Vor mir liegt immer noch der Bildband mit den Kinderfotos aus der „Dritten Welt“. Arm sehen sie aus, mit zerrissenen Kleidern und Schuhen. Aber keines hat diesen trostlosen, resignierten, schon fast etwas abgestumpften Blick jener, die soeben noch lebendig vor mir standen. Kinder, deren ohnehin vielleicht nicht allzugrosse Fantasie weder geweckt noch entwickelt wurde. Die sich hoffentlich nicht bereits zu auf dem Weg zu jener Gott- und Weltverlassenheit befinden, die einst als „acedie“ in den so genannten Lasterkatalog eingereiht wurde. Weil sie die Vorstufe zu allem möglichen sein kann, sowohl zu Depression wie zu Gesetzlosigkeit, die weder vor sich, noch vor der Welt Halt macht.

Wir leben nun einmal in der Welt, in die wir hineingeboren wurden. Glück und Schmerz, Trauer und Hoffnung kennt jedes Land, jedes Volk. Begegnet jungen und alten Menschen.

Wie wir damit ein Leben lang umgehen, liegt vielleicht daran, wie unsere Vorstellungskraft und unsere schöpferischen Kräfte geweckt, entwickelt und schliesslich gelebt wurden. Unsere Kinder aber und ihre Fantasien sind unsere Welt von morgen.